Adlehm's Blog

13/05/2011

Exkursion ins Schweizer Bildungssystem (Teil II) – Die Maturität / Matura

Was in Deutschland hinlänglich als Abitur bezeichnet wird, ist in der Schweiz die Matura bzw. Maturität (lat. maturitas „die Reife(prüfung)“ zum Abschluss einer höheren sekundären Schulausbildung (im Rahmen der Sekundarstufe II) nach der obligatorischen Volksschule von 9 bzw. neu 11 Schuljahren (Primar- und Sekundarstufe I).

Die Sekundarstufe II unterscheidet je nach Bildungsziel zwischen:

1. Allgemeinbildenden Bildungsgängen

an Maturitätsschulen (Gymnasien) mit dem Ziel der Studierfähigkeit. Das erste Semester gilt als Probezeit.

a) als Kurzeitgymnasium (KZG) von 4 Jahren im Anschluss an das 8. oder 9. Schuljahr der Sekundarstufe I oder

b) als Langzeitgymnasium (LZG) von 6 Jahren im direkten Anschluss an die Primarstufe

2. Berufsbildenden Ausbildungsgängen 

mit dem Ziel der Erwerbsfähigkeit in einer Berufstätigkeit.

a) 2-jährige berufliche Grundausbildung mit weniger hohen schulischen Anforderungen (ehemals „Anlehre“)  sowie dem Abschluss „Eidgenössisches Berufsattest“ (EBA)

b) klassische Berufslehre als duale Ausbildung im Lehrbetrieb über 3 Jahre mit jeweils 1 Tag in der Berufsfachschule und Lehrabschlussprüfung „Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis“ (EFZ)

c) moderne Berufslehre – auch „Betriebslehre“ genannt – als triale Ausbildung, d.h. wie b) nur zusätzlich mit überbetrieblichen Kursen von 1-2 Wochen und Lehrabschlussprüfung EFZ

d) Lehre mit praktischer Ausbildung in schuleigenen Lehrwerkstätten (hervorgegangen zumeist aus betriebsinternen Lehrlingsabteilungen) und Lehrabschlussprüfung EFZ

e) Lehre in Lehrbetriebsverbünden (als Zusammenschluss von Betrieben, die nur gemeinsam alle Teile eines Ausbildungsprogramms abdecken können) mit Lehrabschlussprüfung EFZ, wobei ein Lehrling seine jeweilige Grundbildung von seinem „Leitbetrieb“ erhält

sowie durch die Weiterentwicklung des Schweizer Bildungssystems zur Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und die Forderung nach lebenslangem Lernen und damit für eine erhöhte Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungsgängen auch viele

3. Mittelschulen

als „Mischformen in Mittelstellung“ mit doppelqualifizierendem Ziel, d.h. mit grösseren oder kleineren berufqualifizierenden Anteilen:

a) Fachmaturitätsschule / Fachmittelschule (FMS)

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b) Handelsmittelschule (HMS)

c) Informatikmittelschule (IMS)

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d) Berufsmaturitätsschule / Berufsmittelschule (BMS)

Weiterhin werden 3 verschiede Arten der Matura unterschieden:

1.      gymnasiale Maturität

2.      Fachmaturität

3.      Berufsmaturität

Der Abschluss der Matura am Gymnasium – auch „Allgemeine Hochschulreife“ genannt – berechtigt zum prüfungsfreien Zugang zu einem Studium an einer Universität oder einer Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH). Die Anforderungen an die gymnasiale Maturität sind im Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) vom 15. Feb. 1995 festgelegt: Das sind Leistungen in

  • 7 Grundlagenfächern (erste und zweite Landessprache, eine dritte Sprache (z.B. Englisch), Mathematik, Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften, Einführung in Wirtschaft und Recht, Bildnerisches Gestalten/Musik
  • 1 Schwerpunktfach (aus 8 zur Wahl stehenden, u.a. auch Sprachen, z.B. Englisch oder Russisch)
  • sowie 1 Ergänzungsfach (aus 13 Wahlpflichtfächern, u.a. auch Informatik).

Sperrklauseln bei der Auswahl verhindern billige Lösungen. Zudem wird eine Maturaarbeit als eigenständige umfangreichere schriftliche Arbeit in die Bewertung mit einbezogen.

Für Schüler, die zunächst weder die Matura noch eine Berufsausbildung anstreben, eignet sich die FMS als Nachfolgerin der früheren Diplommittelschule (DMS). Die 3-jährige Ausbildung ist schulorientiert und bietet eine allgemeine und berufliche Vollzeitausbildung in verschiedenen Fachrichtungen (z.B. Gesundheit, Pädagogik, Kunst, Musik, Theater, Tanz u.a.). Sie führt zunächst zum „Fachmittelschulausweis“, der kein Berufsabschluss ist, sondern die Zulassung zum Studium an einer Höheren Fachschule (HF). Die Fachmaturität (Fachabitur) ist hier eine zusätzliche Spezialität, die in einem weiteren Jahr erworben werden kann und notwendig für die Zulassung an gewisse Fachhochschulen (FH) ist. Auch Lernende, die nach der Oberstufe / Sekundarstufe I noch keinen Lehrbetrieb gefunden haben, nutzen die FMS oftmals für ein Brückenjahr zur Orientierung.

06/05/2011

Lernziel „Lernen“

Wie definiere ich Lernen als Weg und Ziel unter der Prämisse meines Menschenbildes von Authentizität im Lehrberuf?

Meine ehemalige Lehrerin für Deutsch und Russisch auf der Abiturstufe (Matura), die mir bis heute als Original in Erinnerung geblieben ist und prägenden Einfluss auf meine Weiterentwicklung hatte, schrieb in meine Aphorismen-Sammlung (die früher auch als „Poesiealbum“ bezeichnet wurde):

„Jung sein heißt Flügel haben,

aber Flügel hat man, um zum Ziele zu fliegen und dabei alle Kräfte auszubilden,

Geist und Liebe und Leistung und Sinn für die Schönheit des Lebens“

 (Stefan Zweig)

Lernen ist ein Prozess und eine Funktion der Zeit; das geht nicht so hoppla, hopp von heute auf morgen. Es ist ein Entdeckungsflug, auf dem der Lernende individuell die verschiedenen Facetten des Lebens kennenlernt und ausprobiert, seinen ganz eigenen Charakter ausprägt und seine Stärken langsam ausbaut. Der Weg ist schliesslich das Ziel. Und jeder hat seine ganz eigene Route.

Schliesslich soll Lernen auch nicht nur egoistischer Selbstzweck  sein und als reine Leistungserbringung bewertet werden. Es sollte auch der sozialen Gemeinschaft nützen, weshalb ausser Wissen ebenso Mitgefühl, Teamgeist und Zivilcourage wichtige Lernparameter sind. Last but not least muss Lernen auch Spass machen. Das tut es am ehesten, wenn es mit dem Lernenden selbst, seinem Vorwissen, Vorstellungen und Wünschen etwas zu tun hat, so dass es schliesslich seiner „authentischen Entwicklung“ dient und somit zum höchst möglichen Mass an Welt- und Selbsterkenntnis führt.

In diesem Sinne betrachte ich sowohl „meine Schüler“ als auch mich selbst „die Lehrperson“ als stetig LERNENDEN. So werde ich einerseits versuchen, die vorgenannte Prämissen weitestgehend in meinem Unterricht zu Gunsten der Schüler zu berücksichtigen. Andererseits werde ich selbst darum bemüht sein, die Aufgabe des Lehrens als eigene spezielle Lernsituation mit jeweils vorgegebenen äusseren Parametern, als weitestgehend individuell lehrreich und ressourcen-orientiert zu gestalten.

„Wir fassen Didaktik vorläufig als Reflexion der Aufgabe,

durch Auswahl und Anordnung von Lehrgehalten

einen Brückenschlag zu bewerkstelligen

zwischen der Welt mit ihren Leistungs- und Tradierungsansprüchen auf der einen

und dem Menschen mit seinem Bildungsanspruch auf der anderen Seite“

(ZABECK 1968, S. 103)


Nach der Lektüre von Kersten Reichs „Konstruktivistische Didaktik“ fasse ich diese als einen ethischen Weg zum Ziel des Lernen lernens auf, welcher „gehirn-gerecht“ nach Vera F. Birkenbihl gepflastert sein sollte, und gleichzeitig eine interessante „Wegführung“ anbietet, die für den „fahrenden Gesellen“ emotional ansprechend und persönlich herausfordernd ist sowie Wegabbiegungen auf neue Pfade offen lässt. „Viele Wege führen nach Rom.“ Und wer reist schon gern allein? Es macht viel mehr Spass, die Welt gemeinsam zu entdecken und sich über das Erlebte mit anderen auszutauschen und sich darüber selbst zu (er)finden.

Entsprechend versuche ich in allen Unterrichtsphasen, die 5 elementaren Handlungsstufen nach John Dewey und ebenso die verschiedenen Handlungsebenen (Realbegegnung, Repräsentation, Reflexion) und Perspektiven wie sich Lernen vollzieht (konstruktiv, re- und dekonstruktiv, kreativ, sozial, situiert, emotional und individuell) zu berücksichtigen.

Da konstruktives Lernen Zeit kostet, können Kunstgriffe im Sinne von „blended learning“ bemüht werden, d. h. Lernphasen in denen die sehr motivierten Schüler nicht unbedingt im Klassenzimmer präsent sein müssen, sondern selbständig individuelle Lernjob-Hausaufgaben-Reisen (z.B. zur Informationsrecherche / e-lerning) zwischen einzelnen Lektionen unternehmen. Alle Phasen sollten sinnvoll aus dem Kontext aufeinander aufbauen und zu einem stetigen Wachstum an Lernmöglichkeiten, Handlungsperspektiven und vielfältigen Lernergebnissen führen.

Ich begreife die Konstruktivistische Didaktik nunmehr als eine Ermöglichungsdidaktik, in der die Lehrperson als Begleiter und Initiator von Lernprozessen und Erfolgserlebnissen zwar Lernsituationen ermöglicht, selbst aber in den Hintergrund tritt, indem sie nur minimal Instruktionen erteilt. Demgegenüber konzentriert sich das Lernen an sich beim Schüler selbst als Experte seiner persönlichen „Lernbegierden“. Er wird in möglichst allen Phasen des Unterrichts selbst aktiv –  in verschiedenen Sozialformen: entweder individuell oder interaktiv mit den Mitschülern und lernt schlussendlich die Unterrichtsinhalte handlungsorientiert im Kontext über die Erstellung sinnvoller Lernprodukte (z.B. Poster, Essay, Blog …). Zudem sollten verschiedene Ressourcen und Methoden zum Einsatz kommen (Arbeitsblatt, LMS, Poster, Präsentation, Video, Web 2.0-Elemente, …).

Checkliste Unterrichtsplanung basierend auf:

  • Kersten Reich’s „Konstruktivistische Didaktik“
  • John Dewey’s „Fünf Stufen des Lernens“
  • Howard Gardener’s „Multiple Intelligenzen“


24/04/2011

Exkursion ins Schweizer Bildungssystem

Ilanz

Image via Wikipedia

Im Rahmen der Exkursionen des Berufspädagogik-Modul an der PHTG besuchten wir am 25.02.2011 vormittags die Handelsschule Surselva (HSS) in Ilanz und nachmittags die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Chur.

Dies war ein Kontrastprogramm – allein schon, weil die HSS mit ihrer familiären Schulatmosphäre sehr idyllisch am Berghang inmitten der bezaubernden Natur des Kantons Graubünden gelegen ist, die HTW im städtischen Chur hingegen mit ihrem etwas spröden, anonymen Betongebäude technische Sachlichkeit ausstrahlte.

Einige meiner AHA-Effekte möchte ich hier zusammenfassen:

 … aus  dem Vortrag des Rektors Markus Beer der HSS:

  • Unter dem Dach einer Schule werden ganz verschiedene Abteilungen geführt: sowohl die Beruffachschule (duale Ausbildung in Schule und Betrieb) für Detailhandelsangestellte (DHF) sowie Kaufleute mit E-Profil  (Erweiterte Grundausbildung) oder M-Profil (mit Berufsmaturaausweis) als auch die Mittelschule (in Vollzeit) mit der Handelsmittelschule (HMS) und der Fachmittelschule (FMS).
  • Ein Vorteil der HMS liegt darin, dass die Absolventen neben der „kaufmännischen Berufsmatura“ auch einen Berufsabschluss (KV-Abschluss) erwerben und das Eidgenössische Fähigkeitszeugnis „EFZ Kaufmann/Kauffrau“ erhalten.
  • Die FMS bietet hingegen keinen Berufsabschluss, sondern nur den Fachmittelschulausweis neben der „Fachmaturität Gesundheit“, die wiederum zum Studium an einer Höheren Fachschule berechtigt.

Nun kann ich auch einordnen, warum 2 angehende Drogistinnen, die ich mit einer Studienkollegin für einen Lernauftrag im November letzten Jahres interviewt hatte, jeweils von der FMS als nur eine Alternative zur ihrer laufenden Berufslehre sprachen. Im Anschluss daran könnten sie zwar die Höhere Fachschule besuchen, die sie für Kaderpositionen im Gesundheitsbereich qualifizieren würde. Beide zogen allerdings die Berufslehre vor, weil sie lieber praktisch im direkten Kundenkontakt arbeiten wollten, und schlossen spätere Weiterbildungen als Kosmetikerin oder Heilpraktikantin ohne eine solche Höhere Fachschulausbildung nicht aus.

  • Das Schweizer Bildungssystem ist mit den verschiedensten Schultypen und Ausbildungsgängen, überall sehr durchlässig, so dass sich ein Lernender im Laufe des Lebens noch x-mal umorientieren kann und nicht wie in Deutschland von vornherein in Kasten eingeteilt wird.

Beispielhaft dafür war auch der vom Pro-Rektor der HTW Chur im 2. Teil unserer Exkursion geschilderte eigene Lebensweg „vom Maurer zum Prof.“ über viele einzelne Bildungsstufen. Bemerkenswert!

  • Die Berufschüler seien „defizit-finanziert“ und die Mittelschule daher ein wichtiges Standbein der Schule. Ein BMS-Schüler wird mit ca. CHF 20.000 pro Jahr finanziert.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das in-house-Schwimmbad leider dem Kostendruck zum Opfer gefallen ist. Schade eigentlich! Schwimmen war auch immer eine meiner Lieblingsstunden zum Ausgleich. Nur in einem gesunden Körper, wohnt auch ein gesunder Geist.

  • Die Schulen in der Region müssen untereinander um ihre Schüler „werben“, um den Fortbestand (gerade auch in geburtenschwachen Jahrgängen) zu sichern. Public-Relation-Arbeit, d.h. die Kommunikation zwischen Schule und Öffentlichkeit wird immer wichtiger.
  • Der Anteil der Sprachenausbildung ist sehr hoch. International anerkannte Diplome können erworben werden, um „konkurrenzierbar“ (schönes Schweizer Wort 🙂 zu sein. Auch Auslandsaufenthalte (in Malta oder England) werden jährlich eingeplant.
  • Interessant finde ich den Aspekt der Pflege alten Sprachtums: Es werden 3 Lektionen Rätoromanisch („Bündnerromanisch“) pro Woche unterrichtet.

… aus der Podiumsdiskussion mit den Schülern der HSS:

  • Die Schüler mit E-Profil hatten kurze, klare Vorstellungen von ihrem Berufsabschluss.
  • Die Schüler mit M-Profil, gaben zumeist an, dass sie neben der beruflichen Grundbildung zeitgleich die Matura „mitmachen“, weil ihr Ausbildungsbetrieb (z.B. UBS) es so „verlangt“ hat.
  • Die HMS-ler waren noch nicht genau festgelegt und wollten sich Ausbildungswege offen lassen.
  • Die FMS-ler hatten sich bewusst auf ein weiteres Studium in Richtung Gesundheit / Soziales / Erziehung an einer Höheren Fachschule eingestellt.

… aus  dem Gespräch mit dem Prorektor Prof. Rolf Hug der HTW Chur: 

Die HTW Chur bietet wirtschaftliche und technische Studiengänge in folgenden Fachbereichen an: Bau und Gestaltung, Informationswissenschaft, Management, Medien, Technik sowie Tourismus.

Darüberhinaus ist sie die einzige Fachhochschule in der Deutschschweiz, die eine Technische Berufsmatura nach der Lehre anbietet.

Rolf Hug, Prof. lic. phil., hielt uns keinen Vortrag. Vielmehr kam er sehr persönlich herüber und es war erfrischend, einen Schulleiter zu erleben, der offen und menschlich seine Sichtweise auf Schule und Schüler, aber eben auch einmal aus anderer Perspektive seine Erwartungen an die Lehrerschaft uns angehenden Lehrpersonen mit auf den Weg zu geben versuchte. Im Diskurs kamen wir gemeinsam insbesondere auf folgende Eckpfeiler:

  • Authentizität der Lehrperson kommt vor Fachwissen und formaler Beurteilung
  • Termintreue
  • Teamfähigkeit im Lehrerkollegium (Konsens auf gemeinsamen Nenner, Spielregeln für ein gutes Schulklima einhalten)
  • Verständnis für den Vorgesetzten aufbringen
  • Eigendisziplin vs. Selbstzerstörung
  • die Schule als Dienstleister für die Gesellschaft, u.a. für die Wirtschaft: nicht der Schüler ist Kunde, sondern die Gesellschaft; Schule ist kein Selbstzweck und muss sich nach den gesellschaftlichen Notwendigkeiten ausrichten.

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